"Mehr Prügel als Flügel" | Samuel Beckett | Text-Auszug, Illustrationen | 2009

Dante und der Hummer

Es war Vormittag, und Belacqua hatte sich im ersten Mondcanto festgelesen. Bis zum Hals steckte er darin, er konnte weder vor noch zurück. Die glückselige Beatrice war zugegen, Dante desgleichen, und sie erklärte ihm die Flecken auf dem Mond. Als erstes wies sie ihn auf seinen Irrtum hin, dann brachte sie die eigene Erklärung vor. Die hatte sie von Gott, deshalb konnte er sich in jedem Punkt auf ihre Richtigkeit verlassen. Er brauchte ihr nur Schritt für Schritt zu folgen. Im ersten Teil, der Widerlegung, lief alles glatt. Sie zeigte schlüssig, worauf es ihr ankam, und legte dazu das Nötige ohne Umschweife und Zeitverschwendung dar. Aber Teil zwei, die Beweisführung, war so vertrackt, dass Belacqua sich keinen Reim mehr darauf machen konnte. Der Gegenbeweis, die Zurechtweisung leuchteten beide ein. Aber dann folgte ihr Nachweis, eine eilige Raffung des eigentlichen Sachverhalts, und nun steckte Belacqua wirklich in der Klemme. Zudem war er gelangweilt und wollte endlich zu Piccarda kommen. Trotzdem brütete er weiter über der Rätselstelle. Er mochte sich nicht geschlagen geben, wollte wenigstens begreifen, was die Worte hießen, auf welcher Ebene sie gesprochen waren und welche Überzeugungskraft von ihnen auf den fehlgeleiteten Dichter ausging, so dass er am Ende der Rede gestärkt das schwere Haupt erheben konnte, um dankzusagen und seine frühere Meinung in aller Form zu widerrufen. Er rannte in Gedanken noch immer gegen undurchdringlichen Passus an, als er zu Mittag läuten hörte. Sogleich war die Pflichtübung wie weggewischt. Er krümmte die Finger unter dem Buch zur Schaufel und schob es damit zurück, bis es ganz auf den Handflächen lag: die dienten jetzt der aufgeschlagenen Göttlichen Komödie als Lesepult. So hingebreitet, hob er sie sich bis unter die Nase und knallte sie dort zu. Er hielt sie eine Weile in der Schwebe, blinzelte sie böse an, presste die Buchdeckel mit der Handwurzel zusammen. Dann legte er sie weg. Er lehnte sich im Stuhl zurück, bis sich sein Kopf, aufgekratzt von dem abgefeimten Potpourri, beruhigt hätte. Bevor es seinem Kopf nicht besser ging und Stille eintrat, was allmählich auch geschah, konnte er gar nichts tun. Dann wagte er sich an die Überlegung, wie er weitermachen sollte. Irgendetwas zwang einen ja immer zum Weitermachen. Drei größere Verbindlichkeiten meldeten sich an. Zuerst das Mittagessen, dann der Hummer, dann der Italienischkurs. Das reichte zum Weitermachen erst einmal. Für die Zeit nach dem Italienischkurs fehlte ihm jede klare Vorstellung. Irgendein Plagegeist hatte ihm bestimmt ein Pensum für den späten Nachmittag und Abend aufgebrummt, er kannte es nur nicht. Darauf kam es auch gar nicht an. Worauf es ankam, war: eins, Mittagessen; zwei, Hummer; drei, Italienischkurs. Zum Weitermachen mehr als reichlich. Das Mittagessen, falls es überhaupt gelang, war eine sehr heikle Angelegenheit. Um es genießen zu können, und ab und zu war es ein Hochgenuß, musste er bei den Vorbereitungen absolute Ruhe haben. Wurde er hingegen dabei gestört, kam dann etwa ein munteres Plappermaul mit einem Bombeneinfall oder Bittgesuch ereingeplatzt, so konnte er das Essen gleich bleiben lassen, denn die Speise wurde dann zur Bitternis in seinem Munde, oder schlimmer noch, schmeckte nach gar nichts mehr. Er musste strikt allein sein, brauchte unbedingte Stille und Abgeschiedenheit bei seinen Vorbereitungen für das Mittagsmahl. Zunächst musste die Tür geschlossen werden. Nun war er vor Überfällen sicher. Er wappnete sich mit einem alten Herald und strich ihn auf dem Tisch glatt. Das eher einnehmende Gesicht des Meuchelmörders McCabe starrte zu ihm herauf. Er zündete das Gas an, nahm den Brotröster, eine flache, quadratische Asbestmatte, vom Nagel und legte ihn genau über die Flamme. Dann merkte er, dass er die Flamme zurückdrehen musste. Toast darf auf keinen Fall zu rasch zubereitet werden. Toast wie er sein soll, durch und durch geröstet, braucht ein schwaches und stetiges Feuer. Sonst verkohlt er nur von außen, und die Krume bleibt pappig wie zuvor. Und nichts verabscheute Belacqua so sehr wie die Grässlichkeit, durch ein Fiasko von Matsch und Teig mit den Zähnen aufeinander zu beißen. Dabei war die richtige Methode kinderleicht. So, dachte er, nachdem er die Gaszufuhr gedrosselt und den Grill zurechtgerückt hatte, bis ich mit de Brotschneiden fertig bin, ist er gerade heiß genug. Nun wurde das lange Stangenbrot aus der Blechschachtel gezogen und auf McCabes Gesicht glatt abgesäbelt. Zweimal mit dem Sägemesser unerbittlich durchgeratscht, und ein Paar Scheiben rohes Brot, die Hauptbestandteile seines Mahls, lagen säuberlich vor ihm und harrten seiner gnädigen Entscheidung. Der Brotstumpf wanderte in sein Verlies zurück, die Krümel, als hätte es nie einen Spatzen auf der Welt gegeben, wurden hektisch weggefegt, die Schnitten gepackt und zum Grill befördert. Diese Zurüstungen erfolgten alle mit großer Sachlichkeit und Eile. Von jetzt an war freilich wirkliches Geschick gefordert; denn an diesem Punkt begann beim Durchschnittskoch der große Murks. Belacqua legte die Wange an die weiche Krume, sie fühlte sich flauschig, warm, lebendig an. Aber der wollte er ihr samtenes Geschmeichel schleunigst abgewöhnen, die hatte ihn bei Gott die längste Zeit so fett und bleichgesichtig angeklotzt. Er drehte das Gas eine Spur kleiner und klatschte eine schlappe Scheibe auf das glühende Geflecht, haargenau in die Mitte, so dass das Ganze der japanischen Flagge glich. Da der Platz nicht reichte, beide Scheiben nebeneinander gleichmäßig durchzurösten – und wenn sie nicht gleichmäßig durchgeröstet waren, hätte man sich die Mühe sparen können, sie überhaupt zu rösten-, legte er die andere Scheibe zum Vorwärmen darüber. Als der erster Kandidat abgefertigt war, das heißt bis ins Mark schwarzgebrannt, trat er seinen Platz an den Gefährten ab und lag nun seinerseits zuoberst, tot geröstet, verkohlt und qualmend da, bis auch für diesen Gleiches galt. Dem Ackermann dünkte die Deutung leicht, er hatte sie von seiner Mutter. Die Flecken waren Kain mit seinem Dornenbündel, enterbt und von der Erde fortgeflucht, unstet und heimatlos. Der Mond war sein gezeichnetes und untröstliches Gesicht, versehrt vom Urbrandmal der göttlichen Barmherzigkeit, die dem Ausgestoßenen den schnellen Tod versagt. Der Ackermann hatte da mancherlei verwechselt, aber das machte nichts. Seine Mutter hatte sich damit begnügt, warum sollte er es besser haben. Belacqua kniete vor der Flamme, beugte sich gebannt über den Grill und überwachte ihre Zeit, aber was lange währt, wird endlich gut, ein wahres Wort. Noch bevor das Ende nahte, hatte sich das Zimmer mit Qualm und Brandgeruch gefüllt. Dann hatten Menschensorgfalt und – Geschick ihr möglichstes getan. Er drehte das Gas ab und verstaute den Toaster zurück an seinen Platz: ein klarer Fall von Sachbeschädigung, denn er sengte damit ein langes Brandmal in die Tapete. Vandalismus, wie er im Buche steht. Ihn kümmerte das einen Dreck. Gehörte die Wand denn ihnen? Seit fünfzig Jahren klebte da dieselbe trübselige Tapete, aschfahl vor Alter. Sie zu verunzieren war ausgeschlossen. Als nächstes wurde eine dicke Paste aus Mostrich, Salz und Cayenne in jede Scheibe gründlich eingespachtelt, solange die Poren noch vor Hitze offen standen. Keine Butter, Gott bewahre, nur eine saftige Ladung Senf, Salz und Pfeffer auf jede Schnitte. Butter war Pfusch, das machte den Toast bloß labbrig. Buttertoast, das mochte das Rechte sein für Ordinarien und Heilsarmisten, die außer falschen Zähnen nichts im Kopf hatten. Für einen leidlich stämmigen jungen Rosenstock wie Belacqua taugte dergleichen nicht. Der wollte sein Mahl nach solch penibler Zubereitung mit soviel Verzückung und Siegesrausch verschlingen, als schlüg er den beschlitteten Polacken auf dem Eis. Mit zugekniffenen Augen wollte er danach schnappen, es zu Brei zermalmen, ihm mit den Hauern vollends den Garaus machen. Dann die Qualen der Ätzung; die Pein stechender Gewürze, in denen jeder Bissen verglomm und den Gaumen ausglühte, bis die Tränen kamen. Doch war er dafür noch nicht ganz gerüstet, es gab zuvor noch viel zu tun. Er hatte seine Opfergabe verbrannt, bevor sie wohlgefällig zugerichtet war. Ja, da hatte er den Karren vor den Gaul gespannt. Er klatschte das eine Röstbrot auf das andere, er schlug sie schwungvoll wie Zimbeln aneinander, so dass der zähe Schmer des Mostrichs sie zusammenbuk. Dann wickelte er sie fürs erste in das nächste Stück Altpapier und sammelte sich für den Ausgang. Nur nicht angesprochen werden! Das war jetzt das Entscheidende. Eine Aufhaltung beim derzeitigen Stand der Dinge, das Ärgernis einer auf ihn abgelassenen Redeflut: die reine Katastrophe. Mit seinem ganzen Wesen drängte es ihn den Freuden zu, die seiner harrten. Eine Belästigung, und er konnte sein Mittagessen ebenso gut in die Gosse werfen und stracks wieder nach Hause gehen. Sein Heißhunger auf diese Mahlzeit, der, fast überflüssig zu bemerken, mehr einer Geistes als des Leibes war, hatte sich manchmal schon zu solcher Raserei gesteigert, dass er auf jeden Vorwitzigen, der ihn in seinem Lauf gehemmt oder gehindert hätte, stracks mit Fäusten losgegangen wäre, er hätte ihn ohne Federlesen aus dem Weg gerempelt. Wehe dem Tolpatsch, der ihm in die Quere kam, wenn er für sein Mahl gerüstet war. Mit gesenktem Kopf lenkte er seine Schritte rasch durch ein vertrautes Gewirr von Gassen und duckte sich plötzlich durch eine Ladentür. Das Krämerpaar zeigte keine Überraschung. Er kam fast täglich ungefähr um diese zeit derart von der Straße hereingeschossen. Die Käsescheibe lag bereit. Vom Leib abgetrennt, wartete sie schon seit dem Morgen nur darauf, dass er sie holen kam. Gorgonzola. Er kannte einen aus Gorgonzola, namens Angelo. In Nizza zwar geboren, doch in Gorgonzola aufgewachsen. Belacqua wusste wohl, wo sie zu finden war. Jeden Tag lag sie im selben Eck und wartete auf ihre Abholung. Hochanständige, hilfsbereite Leute. Er besah sich das Stück Käse argwöhnisch. Er drehte es um; vielleicht nahm es sich von rückwärts besser aus? Von rückwärts nahm es sich noch schlimmer aus. Sie hatten es mit der Schauseite nach oben hingelegt, diesen kleinen Schwindel hatten sie sich zu gestanden. Wer konnte ihnen den verdenken? Er rieb mit dem Finger darüber. Es schwitzte. Immerhin. Er bückte sich und roch daran. Ein zarter Verwesungsduft. Wozu denn das? Er brauchte kein Bouquet, er war kein Trüffelschwein verdammt noch mal, er brauchte einen ehrlichen Gestank. Einen ehrlich grünen, verstunkenen und verfaulten Klumpen Gorgonzola brauchte er, in dem es wimmelte, und würde dafür sorgen, dass er ihn bekam. Er maß den Krämer grimmig. „Was soll das?“ fragte er. Der Krämer wand sich. „Nun?“ fragte Belacqua, der, wenn ihm der Kamm schwoll, die Furcht verlor, „mehr haben Sie nicht zu bieten?“ „Stadtauf, stadtab“, sagte der Krämer, „finden Sie in Dublin momentan nichts Verfaulteres.“ Belacqua kochte. Der aufsässige Hundsfott, für zwei Heller hätte er ihn abgemurkst. „So geht das nicht!“ rief er. „Verstehen Sie, so geht das keinesfalls. Ich nehme das nicht hin.“ Er knirschte mit den Zähnen. Der Krämer hätte sich wie Pilatus die Hände in Unschuld waschen können; stattdessen warf der Arme zu einer wilden, flehentlichen Geste aus, wie ein Gekreuzigter. Mürrisch wickelte Belacqua sein Päckchen auf und ließ das leichenfahle Käserechteck zwischen die kalten, schwarzen Sargbretter seiner Brote gleiten. Er stapfte zur Tür, fuhr aber dann doch noch einmal herum. „Verstanden?“ rief er. „Bitte“, sagte der Krämer. Es lag weder Frage noch Zustimmung darin. Unmöglich ließ der beiläufige Ton erraten, was der Kerl sich dachte. Das war höchst scharfsinnig pariert. „Ich sage Ihnen“, rief Belacqua hitzig, „dass es so nicht geht. Auf keinen Fall. Wenn das alles ist, was Sie zu bieten haben“, dabei hob er das Päckchen hoch, „dann werde ich mir meinen Käse anderswo besorgen müssen. Merken Sie sich das.“ „Bitte“, sagte der Krämer. Er kam mit bis zur Ladentür und sah seinem erbosten Kunden nach, der wie ein spatlahmer Gaul davon hinkte. Belacquas Füße waren Wracks, die ihn fast ständig peinigten. Sogar nachts führten sie das Werk der Hühneraugen und Hammerzehen weiter fort. Da stemmte er sich dann mit ihren Ausläufern verzweifelt gegen das Bettstattgitter oder, besser noch, griff hinunter und zerrte sie mit aufgebogenem Rist nach oben. Mit Geschick und Ausdauer ließ sich der Schmerz vertreiben, aber was halfs, die Nachtruhe war davon beeinträchtigt. Ohne die Augen zuzukneifen oder sie von der entschwindenden Gestalt abzuwenden, schnäuzte der Krämer in den Schürzenzipfel. Als Mann von Menschlichkeit und Herz rührte und erbarmte ihn der Sonderling, der stets so bedrückt und kränklich wirkte. Aber er blieb dabei doch der kleine Kaufmann, wohlgemerkt, mit dessen sinn für Selbstachtung und klarer Sicht der Dinge. Ein Fuffziger – er warf ihn hoch -, für einen Fuffziger Käse am Tag, ganze drei Mäuse die Woche. Nein, dafür ging er keinem um den Bart, und wäre er der Papst persönlich. Er hatte auch noch seinen Stolz. Wie Belacqua so auf verschlungenen Wege zu dem bescheidenen Wirtshaus stolperte, wo er nicht unerwartet eintrat, insofern als seine groteske Erscheinung dort weder Kommentar noch Gelächter auslöste, bezähmte er allmählich wieder seinen Jähzorn. Nun, da sein Mittagessen schon fast zum fait accompli gediehen war – denn nur selten verunsicherten die sphinkter schwachen Ohrenbläser seines eigenen Standes mit ihrem Dauerdrang, einem ihren Bombeneinfall oder eine Verabredung aufzuschwatzen, dieses unansehnliche Viertel – konnte er es sich leisten, die Punkte zwei und drei, den Hummer und den Kurs, genauer zu erwägen. Viertel vor drei musste er in der Schule sein. Na also gut, um fünf vor drei. Um halb drei schloss das Wirtshaus; dann machte auch der Fischhändler wieder auf. Vorausgesetzt also, dass seine Tante, das alte Miststück, ihre Bestellung am Morgen beizeiten aufgegeben hatte, und zwar mit der strengen Auflage, das Ding auf Abruf auch bereitzuhalten, sodass ihr Lump von Neffe auf keinen Fall zu warten hätte, wenn er gleich nach Ladenöffnung dort vorbeischaute, brauchte er das Wirtshaus erst bei Torschluss zu verlassen, um noch rechtzeitig da zu sein; er konnte bis zuletzt dort sitzen bleiben. Benissimo. Er hatte noch eins fünfzig. Das reichte für zwei Halbe vom Fass ohne weiteres; dann vielleicht noch ein Flachenbier zur Krönung. Das abgefüllte Helle war dort nämlich besonders gut und süffig. Und für dass Wechselgeld bekam er obendrein noch einen Herald und einen Trambahnfahrschein, sollte ihn Ermüdungen oder Zeitnot dazu zwingen. Immer vorausgesetzt natürlich, der Hummer lag zur Übergabe auch bereit. Diese verfluchten Krämerfritzen, dachte er, es ist einfach kein Verlass auf sie. Er hatte keine einzige Lektion gelernt, aber das machte nichts. Die Professoressa war ja so überaus charmant und ungewöhnlich. Signora Adriana Ottolenghi! Eine Frau von höherer Intelligenz und Bildung als die kleine Ottolenghi überstieg sein Denkvermögen. Darum hatte er sie innerlich auch aufs Podest erhoben, von allen Frauen abgerückt. Beim letzten Mal hatte sie ihm angekündigt, sie würde Il Cinque Maggio miteinander lesen. Aber sie war sicherlich auch nicht gekränkt, wenn er seiner Absicht folgte und ihr eingestand – auf italienisch, in einer glanzvollen Periode, die er auf dem Weg vom Wirtshaus zu verfertigen gedachte - , dass er den Cinque Maggio lieber auf ein andermal verschoben hätte. Manzoni war ein altes Waschweib, Napoleon genauso. Napoleone die mezza calzetta, fa l’ amore a Giacominetta. Warum kam ihm Manzoni wie ein Waschweib vor? Weshalb nur tat er ihm so unrecht? Und Pellico auch. Lauter alte Junfern, Blaustrümpfe. Das musste er sein Signorina fragen, woher bei ihm wohl der Eindruck rührte, dass durch das neunzehnte Jahrhundert in Italien nichts wie alte Hennen fluderten, die wie Pindar glucksen wollten. Carducci gleichfalls. Und wie sich das mit dem Flecken auf dem Mond verhielt. Wenn sie die Antwort nicht parat hatte, machte sie das sicher, und nur allzu gerne, in der nächsten Stunde wieder wett. Damit hatte er alles geordnet und war wohlgerüstet. Mit Ausnahme, wie sich versteht, des Hummers, der notwendig ein unberechenbarer Faktor blieb. Da konnte er nur das Beste hoffen. Und sich auf das Schlimmste gefasst machen, dachte er übermütig und duckte sich durch die Wirtshaustür, wie es sein Brauch war.

Belacqua ging aufs Schulhaus zu, in bester Laune, denn alles war gelaufen wie geschmiert. Das Mittagessen hatte sich als beachtlicher Erfolg erwiesen und würde ihm als Vorbild noch lange haften bleiben. Ja, er konnte sich gar nicht ausmalen, wie es jemals übertroffen werden sollte. Ein so bleiches, seifiges Stück Käse, und dabei diese Strenge! Da blieb ihm nur der Schluss, dass er all die Jahre sich selbst genasführt hatte mit der Meinung, dass Käse je grüner, umso stärker war. Man lernt nie aus, ein wahres Wort. Und zudem hatten seine Zähne und Kiefer über die Spötter aufgejubelt, in die der zermalmte Toast bei jedem Zubiss auseinanderschoss, als hätte er Glas zerknirscht. Der ganze Mund stach und glühte ihm noch von dieser Feuertaufe. Die letzte Würze hatte der Nahrung dann die Neuigkeit verliehen, die ihm Berthold der Besserwisser über die Theke hinweg mit tragisch tiefer Stimme anvertraute: Das Gnadengesuch des Mörders von Malahide, vom halben Land mit unterschrieben, sei abgeschmettert worden; am Morgen müsse der Mann in Mountjoy baumeln, nichts könnte ihn mehr retten. Der Henker Ellis habe sich schon auf den Weg gemacht. dass Käse je grüner, umso stärker war. Man lernt nie aus, ein wahres Wort. Und zudem hatten seine Zähne und Kiefer über die Spötter aufgejubelt, in die der zermalmte Toast bei jedem Zubiss auseinanderschoss, als hätte er Glas zerknirscht. Der ganze Mund stach und glühte ihm noch von dieser Feuertaufe. Die letzte Würze hatte der Nahrung dann die Neuigkeit verliehen, die ihm Berthold der Besserwisser über die Theke hinweg mit tragisch tiefer Stimme anvertraute: Das Gnadengesuch des Mörders von Malahide, vom halben Land mit unterschrieben, sei abgeschmettert worden; am Morgen müsse der Mann in Mountjoy baumeln, nichts könnte ihn mehr retten. Der Henker Ellis habe sich schon auf den Weg gemacht. Belacqua verbiss sich in die Stulle, goss achtlos das kostbare Helle in sich hinein und sann über McCabe in seiner Zelle nach. Der Hummer hatte schließlich doch bereitgelegen, wurde prestissimo vom Händler ausgehändigt, und wie freundlich der dabei noch lächelte! Mit etwas Höflichkeit und guten Willen ging doch wirklich alles leichter. Ein Lächeln und ein Scherzwort von einem schlichten Arbeiter, und schon sah die Welt heller aus. Nichts einfacher als das – eine bloße Frage gut beherrschter Muskeln. „Japsnoch?“ fragte Belacqua. Was konnte das wohl heißen? „Japsnoch“, sagte der Mann, „taufrisch vom letzten Fang.“ Taufrisch – das hatte Belacqua von Makrelen und anderen Meerestieren sagen hören, die vor nicht mehr als ein, zwei Stunden gefangen worden waren, und entsprechend verstand er den Menschen so, dass der Hummer erst seit kurzem tot war. Die Signorina Adriana Ottolenghi erwartete ihn in dem kleinen Vorraum der Eingangshalle, den Belacqua selbstredend längst zum Vestibül ernannt hatte. Es war ja ihr Zimmer, das italienische. Dann kam, auf der selben Seite weiter hinten, das französische. Das deutsche lag weiß Gott wo. Aber wen scherte schon das deutsche Zimmer? Er hängte Hut und Mantel auf, legte das lange, bucklige, grob eingeschlagene Päckchen auf den Dielentisch und trat ungesäumt bei der auf den Dielentisch und trat ungesäumt bei der Ottolenghi ein. Nach ungefähr einer halben Stunde smalltalk beglückwünschte sie ihn zu seiner Sprachbeherrschung. „Sie machen rasche Fortschritte“, sagte sie mit ihrer erstorbenen Stimme. Die Ottolenghi hatte soviel von sich bewahrt, wie es bei einer Frau von gewissen Jahren zu erwarten steht, der Jugend, Schönheit und ein keusches Leben noch mehr als alles andere zum Hals herausgehangen hatte. Belacqua verhehlte seine tiefe Freude und unterbreitete ihr das Mondrätsel. „Ja“, sagte sie. „Ich kenne die Stelle. Eine berühmte harte Nuß. Mir ist die Antwort aus dem Stegreif nicht geläufig, aber ich will gern zu Hause nachschlagen“. Das liebe Wesen! Nachschlagen wollte sie zu Hause in ihrem dicken Dante! Eine wunderbare Frau! „Ich weiß nicht, was mich darauf bringt“, sagte sie, „aber es könnte Ihnen nicht schaden, einmal Dantes seltene Mitleidsregungen in der Hölle zusammenzustellen. Das war seinerzeit“ – ihre Vergangenheitsformen klangen stets wehmütig – „eine beliebte Examenfrage.“ Er legte das Gesicht in tiefsinnige Falten. „Mir fällt in diesem Zusammenhang jedenfalls ein grandioses Wortspiel ein“, sagte er, „qui vive la pietà quando è ben morta ...“ Sie schwieg. „Da frage ich mich doch“, sagte er, nun ganz vernagelt, „wie man das wohl übersetzen könnte?“ Geräusche wie von einem Wortgefecht drangen aus der Eingangshalle. Dann Stille. Knöchel klopften einen Trommelwirbel an die Tür, die aufflog, und siehe, Mlle Glain war da, die Französischlehrerin, die mit ausgestülpten Stilaugen und im Zustand höchster Erregung ihre Katze umklammert hielt. „Oh“, stieß sie hervor, „Verzeihung. Ich störe, aber was war in der Tüte?“ „Der Tüte?“ fragte die Ottolenghi. Mlle Glain trat à l’ingènue nach vorn. «Das Päckchen», sie vergrub das Gesicht in der Katze, «das Päckchen in der Eingangshalle.“ Belacqua behielt die Fassung. „Es gehört mir“, sagte er. „Ein Fisch.“ Er wusste das französische Wort für Hummer nicht. Fisch reichte längst. Jesus Christus, Heiland und Gottessohn, hatte sich mit dem Fisch begnügt, warum sollte Mlle Glain es besser haben? „Oh“, sagte Mlle Glain, unaussprechlich erleichtert. „Ich kam gerade noch zurecht. „Sie verabreichte der Katze einen Klaps. „Sie hätte ihn glatt zerschleißt.“ Belacqua war nun doch etwas besorgt. „Hat sie sich schon darüber hergemacht?“ fragte er. „Nein, nein“, sagte Mlle Glain, „ich habe sie gerade noch erwischt. Aber da ich nicht ahnte, was darin war“ – dies unter Sufragettengekecker-, „wollte ich mich doch erkundigen“. Die hundsgemeine Schnüfflerin. Die Ottolenghi war leicht erheitert „Puisquìl n`y a pas de mal...“, sagte sie in erlesener Ermattung. „Heureusement“, der Ton bewies, Mlle Glain war fromm – „heureusement.“ Sie züchtigte die Katze mit leichten Patscherchen und verzog sich. Ihre ergraute Altjungfernschaft schrie auf Belacqua ein. Eine nie erweckte Frauenrechtlerin, fromm und scharf auf einen Groschenskandal. „Wo waren wir?“ fragte Belacqua. Auch neapolitanische Geduld hat ihre Grenzen. „Wo sind wir je?“ rief die Ottolenghi. „Wo wir immer waren, wie wir immer waren.“

Belacqua schritt auf das Haus seiner Tante zu. Lassen wir es lieber Winter sein, damit nunmehr die Dämmerung niedersinken und der Mond aufsteigen kann. An der Straßenecke lag ein gestürztes Pferd; ein Mann hatte sich auf seinen Kopf gesetzt. Ich weiß, dachte Belacqua, das soll man in solchen Fällen tun. Aber warum? Ein Laternenmann sauste auf dem Fahrrad vorbei, senkte die Lanze vor dem Lampenpfosten, und von dem Tjost stiebte ein kleines gelbes Licht in den Abend. Ein Liebespaar in ärmlicher Kleidung stand in einer pompösen Auffahrt. Sie lehnte schlaff am Torgitter, mit gesenktem Kopf, er hatte sich dicht an sie gedrängt und ließ die Hände seitlich baumeln. Wo wir waren, dachte Belacqua, wie wir waren. Er umklammerte sein Päckchen und ging weiter. Warum nicht Mitleid und Frömmigkeit zugleich, auch schon hienieden? Warum nicht Erbarmen und Gottesfurcht in einem? Ein wenig Barmherzigkeit bei der mühseligen Opfertat, um zu frohlocken wider das Gericht? Er dachte an Jonas und den Kürbis, an einen eifersüchtigen Gott, der über Ninive hatte Gnade walten lassen. Und an den armen Mc Cabe, dem es zum Morgengrauen an den Kragen ging. Wie fühlte der sich jetzt, was trieb er? Er konnte sich nur noch auf eine Mahlzeit freuen, auf eine Nacht. Seine Tante stand im Garten und hegte alle Blumen, die zu dieser Jahreszeit verdorren. Sie umarmte ihn, dann stiegen sie zusammen hinunter in den Schoß der Erde, die Küche im Souterrain. Sie nahm ihm das Päckchen ab, schnürte es auf, und jäh lag der Hummer auf dem Tisch, dem Wachstuch, hüllenlos. „Er ist garantiert frisch“, sagte Belacqua. Plötzlich sah er das Wesen und geschlechtslose Geschöpf sich regen. Es veränderte unzweifelhaft die Lage. Seine hand fuhr zum Mund. „Verdammter Mist“, sagte er, „er lebt noch.“ Seine Tante betrachtete den Hummer. Wieder zuckte er in einer schwachen Lebensregung auf dem Wachstuch. Über ihn gebeugt, sahen sie auf seine preisgegebene Kreuzgestalt hinunter. Er erschauerte von neuem. Belacqua spürte, wie ihm übel wurde. „Um Gotteswillen“, wimmerte er, „er lebt noch, was machen wir jetzt bloß?“ Die Tante musste herzlich lachen. Geschäftig lief sie in die Speisekammer, während er weiter auf den Hummer stierte; als sei zurückkam, hatte sie sich eine schmucke Schürze umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt, die Zielstrebigkeit in Person. „Nun“, sagte sie, „das will ich auch stark hoffen.“ „Von heute früh bis jetzt“, murmelte Belacqua. Dann gewahrte er ihre scheußlichen Speisekammer, während er weiter auf den Hummer stierte; als sei zurückkam, hatte sie sich eine schmucke Schürze umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt, die Zielstrebigkeit in Person. „Nun“, sagte sie, „das will ich auch stark hoffen.“ „Von heute früh bis jetzt“, murmelte Belacqua. Dann gewahrte er ihre scheußlichen Gerätschaften. „Was hast du vor?“ rief er. „Abkochen, den Kerl“, sagte sie, „was sonst?“ „Aber er ist noch nicht tot“, lehnte sich Belacqua auf, „so kann man ihn nicht kochen.“ Sie sah ihn verdutzt an. Hatte er den Verstand verloren? „Sei nicht kindisch“, sagte sie scharf, „Hummer kocht man immer lebend. Das ist nun mal so.“ Sie packte den Hummer und legte ihn auf den Rücken. Er zitterte. „Sie spüren nichts“, sagte sie. In den Tiefen des Meeres war er in den fühllosen Kübel getappt. Noch stundenlang hatte er verstohlen inmitten seiner Feinde Luft geschöpft. Er hatte die Katze der Französin wie Belacquas hirnlosen Klammergriff überstanden. Jetzt wurde er im siedenden Wasser zu Tode gebrüht. Es ging nicht anders. Nimm meinen leisen Odem in den Wind. Belacqua sah ihr in das alte, pergamentene Gesicht, grau im Dämmerlicht der Küche. „Du quengelst“, sagte sie, „machst mich nervös, und dann beim Essen stürzt du dich darauf.“ Sie nahm den Hummer vom Tisch. Er hatte noch knapp drei Sekunden zu leben. Nun ja, dachte Belacqua, es ist ein rascher Tod, Gott steht uns allen bei. Von wegen rasch.

"more than beating wings" | samuel beckett | text-summary, illustrations | 2009

Dante and the lobster